Eigentlich gilt die Görlitzer Muschelminna als echtes Alleinstellungsmerkmal. Doch unter diesem Namen gibt es ebenso eine Attraktion in Thüringen und auch noch eine Zwillingsschwester in Lettlands Hauptstadt Riga.
Hans-Hermann Schneider aus Görlitz machte beim Besuch in Waltershausen bei Gotha eine Entdeckung: „Auf dem Marktplatz bewunderte ich den Marktbrunnen, der mir irgendwie bekannt vorkam.“ Eine Passantin habe ihm erklärt: „Das ist unsere Muschelminna! Sie ist Zeitzeugin der vielen Veränderungen am Marktplatz. 1908 wurde der Markt neu gepflastert und der Brunnen in die Mitte des Platzes versetzt. Bei dieser Baumaßnahme wurde der Sandsteinbrunnen mit einer Figur verschönert, die der Volksmund Muschelminna nennt“. Es handele sich dabei um eine Fischerin, die eine Muschel trägt. Auf einem Podest, aus dem vier Löwen Wasser speien, steht die Fischerin, die eine Muschel nach oben streckt und aus der ebenfalls Wasser fließt.
Repräsentativer Postplatz
Vor 30 Jahren, am 1. Mai 1994, war die Görlitzer Muschelminna auf ihrem angestammten Platz auf dem Brunnen am Postplatz, auch dank des Sponsors Shell (zu Deutsch: Muschel), wieder aufgestellt worden. Nach noch vorhandenen Unterlagen in der Kunstgießerei Lauchhammer im Süden Brandenburgs konnte der Guss erfolgen. Lauchhammer zählt zu den traditionsreichsten Gießereien Deutschlands und stellt seit 1725 in ihrer denkmalgeschützten Produktionsstätte kunst- und architekturbezogene Plastiken, Skulpturen oder Brunnen her.
Der Görlitzer Postplatz hieß zur Nazizeit Hindenburgplatz und zu DDR-Zeiten „Platz der Befreiung“. Am Platz befindenden sich das 1855 eingeweihte Postamt und das Gerichtsgebäude, 1865 eingeweiht. Bis dahin war der Platz eine Viehweide und hieß schlicht Viehmarkt.
Zu den neuen Gebäuden gehörte eine verbindende Platzgestaltung. Oberbürgermeister Johannes Gobbin bemühte sich um Spenden und staatliche Mittel zur Finanzierung des Bauvorhabens.
Breslauer Schule
Der spätere preußische Innenminister Robert Viktor von Puttkammer unterstützte das Görlitzer Rathaus bei der Gestaltung eines repräsentativen Platzes. Ausgeführt wurde der Entwurf des Berliner Bildhauers Robert Toberenz, der von 1879 bis 1885 Leiter des Meisterateliers für Bildhauerei am Schlesischen Museum der Bildenden Künste in Breslau tätig war. Er sah ein mehrstufiges Postament aus Marmor vor, um den vier überlebensgroße Figuren sitzen, zwei weibliche (Nymphe und Nixe) und zwei männliche (Fischer und Jäger), die Kraft, Veränderlichkeit, Nutzen und Romantik darstellen. Die 3,44 Meter hohe bronzene Frauengestalt verkörpert die Natur und hält über dem Kopf eine Muschel, aus der sich das Wasser ergießt. Sie stellt die Naturgöttin Flora dar.
Im Benimmbuch aus dem Kaiserreich wurde „Höheren Töchtern“ empfohlen, die häufig wechselnden Dienstmädchen mit „Minna“ anzureden. Da Mägde und Dienstmädchen oft schlecht behandelt wurden, ist „zur Minna machen“ redensartlich geworden.
Der Brunnen wurde 1887 eingeweiht und war von einem Gitterzaun umgeben. Die Görlitzer nannten den Brunnen despektierlich – aber zugleich liebevoll – Muschelminna. 1889 legten Arbeiter rund um den Brunnen vier sternförmig über den Platz verlaufende Wege an. Im selben Jahr erhielt der Brunnen ein Bassin. 1937 mussten die Wege zugunsten der neuen Straßenbahn weichen. Fortan umgab ein Oval aus Rosen die Muschelminna. 1942 wurde sie demontiert und sollte zu Kriegszwecken eingeschmolzen werden. Seit 1967 zierte dann eine große Blumenvase als Bekrönung das Postament des Brunnens.
Zur Minna gemacht
Die liebevoll-despektierliche Bezeichnung als Minna mag im Kaiserreich seine Analogie in der Redensart „Jemanden zur Minna machen“ gehabt haben. Diese hatte ihre Wurzel in einem Benimmbuch, in dem „Höheren Töchtern“, also Töchtern feinerer Herkunft, empfohlen wurde, die häufig wechselnden Dienstmädchen einfach nur mit „Minna“ anzureden – damals ein absoluter Modename. Da Mägde und Dienstmädchen oft schlecht behandelt wurden, wurde „zur Minna machen“ redensartlich.
Spekulativ ist insofern, ob man sich im Thüringischen Waltershausen vom damals prosperierenden Görlitz namentlich durch die Ähnlichkeit inspirieren ließ, oder ob eine Namensbildung so schon von sich aus nahelag.
Minnas Schwester in Riga
Görlitz abkupfern hatte man im Entstehungsjahr der Görlitzer Muschelminna 1887 im boomenden Riga gleichwohl gar nicht nötig. Die Internetseite „Görlitz Insider“ hatte im Januar 2023 bei der Suche nach architektonischen Doppelgängern zu Görlitz auch auf „Muschelminnas kleine Schwester in Riga“ aufmerksam gemacht, die ebenso 1887 eingeweiht wurde. Damals wurden die Festungsanlagen in der alten Hansestadt geschleift und Boulevards angelegt. An ihren Seiten bauten die wohlhabenden deutschen Einwohner – Riga war damals Hauptstadt des bis 1919 vom deutschen Adel geführten russischen Gouvernements Livland – Häuser, die in Luxus und Reichtum miteinander konkurrierten. Vor diesem Hintergrund war August Franz Leberecht Volz, ein Schüler Hermann Endes an der Berliner Akademie der Künste, 1875 als 24-Jähriger nach Riga gekommen. In seiner Werkstatt entstand gegenüber der Oper auch 1887 – also zeitgleich zur Görlitzer Muschelminna – der Brunnen „Nymphe“.
Ein anderes sehr bekanntes Werk von Volz in Riga ist etwa die Butlerfigur für das Rigaer Handelshaus „Louis Ludman & Co“ in der einstigen Mathisstraße 21. Im ebenso deutsch-baltischen Schwesterngouvernement Estland schuf er das Deutsche Theater (heute Eesti Dramateater) in der Hauptstadt Reval (Tallin). Auch die Rolandstatue vor dem Wahrzeichen von Riga, dem Schwarzhäupterhaus, ist sein Werk. Dessen Inschrift: „Sollt ich einmal fallen nieder, so erbauet mich doch wieder“, die nach der Rekonstruktion auch daneben auf Lettisch steht, schlägt den Bogen der Rekonstruktion nach Görlitz. Ob die Nymphe in Riga einst auch „Muschelminna“ genannt wurde, konnte der Recherche aus lettischen Internetquellen leider nicht entnommen werden.
Till Scholtz-Knobloch/kan