Ein Praktikum, das Wurzeln stärkt und Zukunftspläne ändert
Zuzanna Staniszewska (26) studiert im Hauptfach Slawistik und im Nebenfach Linguistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Für drei Monate tauschte sie den Hörsaal gegen den Spielteppich im nicht-öffentlichen katholischen Kindergarten „Ochronka“ in Chronstau (Chrząstowice). Was als akademisches Interesse an Zweisprachigkeit begann, wurde zu einer Reise zu den eigenen Wurzeln, einer Entdeckung der deutschen Minderheit in Polen und einer beruflichen Neuorientierung. Im Gespräch mit Manuela Leibig erzählt sie über Mut, Sticker-Reisepässe und lebendige Traditionen.
Zuzanna, du kommst aus Mainz, studierst dort und bist jetzt für drei Monate in Chronstau bei Oppeln. Was hat dich dazu motiviert, ein Praktikum im Ausland zu machen und dann ausgerechnet hier?
Das kam durch die Uni. Ich habe mitbekommen, dass im Kindergarten in Chronstau jemand gesucht wird, der den Kindern spielerisch Deutsch beibringt und den Alltag unterstützt. Das Konzept eines deutsch-polnischen, also bilingualen Kindergartens hat mich sofort interessiert. Ich wollte sehen, wie das in der Praxis funktioniert und umgesetzt wird. Da ich mein Pflichtpraktikum eigentlich schon in Warschau absolviert hatte, war das hier eine rein private, freiwillige Entscheidung. Die Kombination aus einer neuen Stadt, die ich vorher nicht kannte, und der Zweisprachigkeit waren die Schlüsselbegriffe für mich.
Du hast selbst polnische Wurzeln. War das auch ein Grund für die Entscheidung?
Absolut, das ist ein interessanter Punkt. Ich bin in Posen geboren, aber meine Familie stammt ursprünglich aus Niederschlesien, aus der Gegend um Militsch – bekannt für die Karpfenteiche und das Naturschutzgebiet rund um das Bartschtal. Das ist nur etwa zwei Stunden mit dem Zug von Oppeln entfernt. Als ich fünf Jahre alt war, sind wir nach Deutschland emigriert, genauer gesagt nach Süddeutschland an den Bodensee. Dort bin ich komplett deutsch sozialisiert worden: Kindergarten, Schule, Gymnasium, Studium. Aber die Wurzeln waren immer da.
Die Kinder wissen: Zuzanna spricht nur Deutsch. Sie begleitet den Alltag – beim Essen, beim Anziehen, beim Händewaschen.Foto: Manuela Leibig
Hattest du vor der Abreise Bedenken? Immerhin studierst du Slavistik und Linguistik, keine Pädagogik.
Ja, definitiv. Am Anfang überwog die Aufregung, aber kurz vor der Abreise hatte ich schon ein mulmiges Gefühl. Meine größte Sorge galt den Kindern: Wie werden sie auf mich reagieren? Wollen sie überhaupt mit mir spielen? Ich hatte ja keinerlei Praxiserfahrung im Spracherwerb oder in der Pädagogik. Beim Team war ich entspannter, aber ob ich den Zugang zu den Kleinen finde, das hat mich beschäftigt. Rückblickend war das unbegründet. Jetzt, nach drei Monaten, sind das Team und die Kinder wie eine zweite Familie für mich geworden.
„Erfahrung hier, das Eintauchen in eine andere Lebensrealität, ist so viel wertvoller als ein Semester im Hörsaal.“
Wie wurdest du in Chronstau aufgenommen?
Es war unglaublich herzlich. Ich kam an einem Sonntag an und Frau Bartek, die Direktorin, hat mich mit ihrer ganzen Familie empfangen. Wir waren direkt essen, es war sehr familiär. Ich saß also nicht alleine in meinem Zimmer, sondern war sofort integriert. Mein erster Eindruck von Chronstau war allerdings: „Oh, das ist aber klein.“ Mainz ist eine Studentenstadt, hier ist es dörflich – aber klein und fein. Es gibt alles, was man braucht: Supermärkte, Kirche und schöne Strecken zum Joggen. Ich habe mich hier, obwohl ich alleine im Obergeschoss des Hauses wohne, von Anfang an sehr sicher gefühlt.
Lass uns über deine Arbeit sprechen. Was genau sind deine Aufgaben in „Ochronka“?
Ich bin sozusagen die „deutsche Stimme“. Meine Aufgabe ist nicht strikt definiert, was mir viel kreativen Freiraum gelassen hat. Die Kinder wissen: Ich spreche nur Deutsch. Ich begleite den Alltag – beim Essen, beim Anziehen, beim Händewaschen. Überall versuche ich, die deutsche Sprache einzuflechten: „Wo ist dein Schal?“, „Nimm den Löffel“.
Nicht-öffentlicher katholischer Kindergarten „Ochronka“ in Chronstau.Foto: Manuela Leibig
Ich musste mir überlegen: Wie motiviere ich die Kinder, mit mir zu interagieren? Daraus sind eigene Projekte entstanden, auf die ich stolz bin. Zum Beispiel mein „Reisepass“-Projekt. Ich habe für die Kinder Pässe gebastelt. Wenn sie sich trauen, mit mir auf Deutsch zu spielen oder Wörter zu wiederholen, bekommen sie Sticker für ihren Pass. Kinder lieben Sticker! Das hat das Eis gebrochen.
Du hast auch einen besonderen Adventskalender entworfen?
Ja, genau. Jedes Türchen war eine kleine sprachliche Aufgabe, angepasst an das jeweilige Kind: „Nenne drei Farben“, „Mache drei Kniebeugen“. Als Belohnung gab es Gummibärchen oder natürlich Sticker. Ich habe gemerkt, dass diese kleinen Erfolge nicht nur die Kinder motivieren, sondern auch mich. Wenn ein Kind strahlend auf mich zukommt, gibt mir das unglaublich viel Energie zurück. Ich habe hier verstanden, dass mir das Lehren große Freude bereitet. Das ist eine Erkenntnis, die vielleicht sogar meine berufliche Zukunft beeinflusst – ich denke jetzt ernsthaft darüber nach, nach dem Master doch noch in Richtung Pädagogik zu gehen.
Wie reagieren die Kinder auf die Zweisprachigkeit?
Es ist ein Gewinn für sie. Ihre Köpfe sind wie Schwämme. Sie hören die Phonetik, sie speichern Wörter ab. Anfangs waren sie überrascht, dass ich scheinbar kein Polnisch verstehe. Das hat dazu geführt, dass sie angefangen haben, mir Polnisch beizubringen. Wir haben daraus ein Spiel gemacht. Ich frage: „Wie heißt das auf Polnisch?“ und spreche es dann absichtlich lustig oder falsch aus, damit sie mich korrigieren können. Dieser Rollentausch macht ihnen riesigen Spaß. Mittlerweile läuft die Kommunikation fließend, mal auf Deutsch, mal mit Händen und Füßen, aber immer mit viel Lachen.
Zuzanna Staniszewska hat auch den Adventskalender für die Kinder gebastelt. Jedes Türchen war eine kleine sprachliche Aufgabe, angepasst an das jeweilige Kind: „Nenne drei Farben“, oder „Mache drei Kniebeugen“.Foto: Manuela Leibig
Du bist in eine Region gekommen, in der die deutsche Minderheit sehr aktiv ist. Wusstest du vorher davon?
Ich wusste theoretisch, dass es die größte Minderheit in Polen ist. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wie lebendig das hier wirklich ist. Das hat mich am meisten überrascht: Dieser Stolz. Man hört hier Sätze wie „Wir sind Deutsche“, und das wird ganz selbstverständlich gelebt. In Deutschland selbst erlebt man diesen unbefangenen Stolz auf Traditionen oft gar nicht mehr so stark. Hier werden Traditionen gepflegt, die ich teilweise gar nicht kannte.
Welche Traditionen waren das zum Beispiel?
Ich war bei einer Veranstaltung in der Österreich-Bibliothek zum Thema schlesische Bräuche. Da habe ich zum ersten Mal vom „Federnschleißen“ (Szkubanie pierza) gehört. Auch die spezifischen Weihnachtsgerichte waren neu für mich. Durch meine Arbeitskollegin, die letztes Jahr geheiratet hat, habe ich viel über die Hochzeitsbräuche hier erfahren. Der Polterabend ist hier ein riesiges Event, viel intensiver als ich es aus Deutschland kenne. Auch das Austeilen des Hochzeitskuchens an die ganze Nachbarschaft vor dem Fest – das ist eine wunderschöne Geste, die Gemeinschaft stiftet.
Du hast auch Veranstaltungen der Minderheit besucht, wie die Jugendgala oder Weihnachtstreffen. Wie nimmst du die junge Generation hier wahr?
Sehr engagiert und voller Energie. Ich habe die Mädels rund um die Familie der Direktorin erlebt, wie viel Herzblut sie in die Vorbereitungen stecken, sei es für die Gala in Gogolin oder die Bastelstube im Kindergarten. Es ist beeindruckend zu sehen, dass Jugendliche ihre Freizeit opfern, um Kultur zu pflegen. Besonders der Auftritt von zwei Schwestern, Zosia und Maja, bei der Gala zum 35. Bestehensjubiläum der SKGD hat mich berührt – ich hatte Gänsehaut. Die Deutsche Minderheit ist hier definitiv kein „Alte-Leute-Verein“, sondern für junge Menschen sehr attraktiv. Es gibt Tanz, Gesang, Wettbewerbe – ein buntes Programm.
Du hast vorhin gesagt, du fühlst dich hier fast „deutscher als in Deutschland“. Wie meinst du das?
In Deutschland sind wir mittlerweile sehr multikulturell, was auch gut ist. Aber dieses konzentrierte Pflegen von deutschen Volksliedern, von Dialekt, von religiösen Traditionen auf Deutsch – das ist hier in Chronstau fast intensiver. Es ist wie ein Spiegelbild. Ich selbst komme aus einem polnisch-italienischen Haushalt in Deutschland. Mein Vater ist Italiener, meine Mutter Polin. Wir pflegen in Deutschland auch unsere polnischen Traditionen – ich tanze zum Beispiel in Darmstadt in einer polnischen Folkloregruppe „Krakowiak“. Hier in Oppeln ist es genau andersherum: Die Menschen pflegen das Deutsche in einer polnischen Umgebung. Das hat mir gezeigt, wie wichtig Wurzeln sind.
Für drei Monate tauschte Zuzanna Staniszewska den Hörsaal gegen den Spielteppich im nicht-öffentlichen katholischen Kindergarten „Ochronka“ in Chronstau (Chrząstowice). Foto: Manuela LeibigWie hat sich dein Blick auf Polen durch diese drei Monate verändert?
Ich kannte Polen vorher hauptsächlich aus Familienbesuchen und dem Praktikum in Warschau. Aber hier habe ich eine Region kennengelernt, die ihre Geschichte nicht nur im Museum bewahrt, sondern im Alltag lebt. Die Zweisprachigkeit auf der Straße, im Laden – das ist etwas Besonderes. Sogar in der Kirche gibt es eine deutschsprachige Heilige Messe! Ich habe mich hier nie fremd gefühlt.
Was würdest du anderen jungen Menschen raten, die überlegen, ein Praktikum in der Region zu machen?
Einfach machen! Nur Mut. Viele haben Angst, Zeit im Studium zu verlieren oder während so eines Auslandaufenthaltes etwas zu verpassen. Aber diese Erfahrung hier, das Eintauchen in eine andere Lebensrealität, ist so viel wertvoller als ein Semester im Hörsaal. Man wächst über sich hinaus. Die erste Woche war hart, das gebe ich zu. Aber danach wurde es zu einer der besten Zeiten meines Lebens. Ich habe hier nicht nur beruflich eine neue Richtung für mich entdeckt, sondern auch emotional viel mitgenommen.
Wirst du wiederkommen?
Definitiv. Sie werden mich hier nicht so schnell los, und ich sie auch nicht. Ich habe in Chronstau keine Arbeitskollegen zurückgelassen, sondern Freunde. Ich nehme einen Koffer voller Erinnerungen mit – an die Kinder, die mir sagten: „Du warst fantastisch“, an die Klöße mit Rouladen in Oppeln und an das Gefühl, willkommen zu sein.


